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Wundertüte Bruckner

Anton Bruckners 1. Sinfonie c-Moll in der Edition Staatskapelle Dresden

Das Erbe von Beethoven wog schwer. Johannes Brahms war gut 30 Jahre alt, als er dem Geiger Joseph Joachim seinen ersten Sinfoniesatz zeigte, doch bis zur Vollendung der 1. Sinfonie vergingen noch einmal 15 Jahre. Auch Anton Bruckner war in den Mittvierzigern, als er sich auf das sinfonische Terrain wagte. Noch ließ er sich dabei von dem zehn Jahre jüngeren Mentor Otto Kitzler (ein gebürtiger Dresdner übrigens) leiten, obwohl ihm in Sachen Theorie kaum mehr etwas beizubringen war.

Nicht wegzudiskutieren ist schon hier das Vorbild Richard Wagner, das in späteren Sinfonien Bruckners noch ausgiebig und in verschiedenen Gewändern vom hommageartigen Beinahe-Zitat bis zur Einverleibung erscheint. Während der Arbeit an der 1. Sinfonie besuchte Bruckner eine Aufführung von „Tristan und Isolde“ in München und suchte auch die Fürsprache des Dirigenten Hans von Bülow zu gewinnen, der ihm aber später kaum mehr wohlgesonnen war. Die Uraufführung der 1. Sinfonie 1868 geriet zu einem Achtungserfolg, von einem Geniestreich wollen wir eher nicht sprechen. Bruckner war aber überzeugt von dem Werk, erst 1891 legte er, der sich oft seinen Kritikern mit Überarbeitungen beugte, eine zweite, „Wiener“ Fassung vor.

Christian Thielemann greift jedoch auf die erste, so genannte Linzer Fassung zurück, von der Bruckner selbst behauptete, so etwas Keckes habe er später nicht mehr komponiert. Bruckner kehrt auch beim Komponieren die Verhältnisse um und schreibt das Finale zuerst, das einige für Bruckner typische Kniffe aufweist, die hier noch so offenliegen, dass man einer chromatischen Steigerung hinterherstaunt, bei der Bruckner plötzlich die Luft herausläßt und anders weitermacht. Doch genau solche Passagen sind es, die dann spätestens in der 3. Sinfonie einen ruhigen Atem, einen Puls oder eine Zielführung bekommen, die Bülows Attest von der angeblichen Trotteligkeit des Komponisten disqualifizieren.

Hier liegt das Material noch als Idee herum, ist das Adagio noch nicht an den Rändern der Existenz entlangkomponiert. Christian Thielemann, der seit Jahren mit der Staatskapelle Dresden Bruckners Sinfonien besonders pflegt, findet für diese 1. Sinfonie einen Zugang, der das Stück zum Sprechen bringt, es besonders in den Ecksätzen zu tieferer Aussage zwingt und dabei niemals in die Überheblichkeit der Einordnung in ein Frühwerk erliegt. Zu wunderbar sind da die Melodieverästelungen oder Dialoge zwischen den Holzbläsern gelungen, und gerade das schüchtern suchende Thema des 1. Satzes versteht Thielemann als „Aufforderung zum Tanz“: Bruckner betritt die Bühne und spätestens zwei Seiten später legen die Blechbläser der Kapelle los, als würden sie die großen Exemplare etwa der 4. oder 7. Sinfonie gleich hinterher spielen wollen.

Aufforderung, Aufbruch und Beginn – diese Begriffe hört man dieser fulminanten Interpretation fast taktweise an, und so bleibt man nach dem von Thielemann mitreißend hingelegten Scherzo auch im eher disparat angelegten Finale bis zu den Schlusstakten in spannender Hörerwartung dabei. Dass das Ganze live (aus dem Konzert in der Semperoper zur Saisoneröffnung 2017/2018) und in absolut hervorragender Intonation zwischen den Sektionen übrigens, ist nicht selbstverständlich.

Die Edition Sächsische Staatskapelle beim Label Profil Medien, die in der Verantwortung von Dr. Steffen Lieberwirth seit Jahren die musikalischen Wege der Staatskapelle und ihrer Dirigenten und Aufführung dokumentiert, hat nach den Sinfonien 8, 7 und 4 mit Christian Thielemann nun einen neuen Bruckner-Baustein hinzugewonnen, der vom tiefen Verständnis des Orchesters für die raumgreifenden Konzeptionen des Linzer Komponisten zeugt. Und erst recht erfreut sich das Ohr, wenn Thielemanns Kompetenz in der klangformenden Gestik bei Bruckner auf ein nicht nur blind den Intentionen folgendes, sondern mit eigenem Bruckner-Glanz aufwartendem Ensemble wie die Kapelle trifft.

Anton Bruckner: 1. Sinfonie c-Moll WAB 101
Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann

Edition Staatskapelle Dresden, Vol. 52, Profil Medien GmbH

 


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