In vielen Konzerthäusern ist ein Silvesterkonzert mit Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie auf dem Programm gute Tradition. In Dresden wird die Sinfonie zum Jahreswechsel gleich sieben Mal gespielt, da sowohl Dresdner Philharmonie (mit Marek Janowski), Sächsische Staatskapelle (mit Christian Thielemann) als auch die Elbland Philharmonie Sachsen (Ekkehard Klemm) das Stück programmiert haben, letztere sind damit in der Kirchgemeinde Dresden-Plauen jedes Jahr präsent. Die Aufführung der Staatskapelle war mir durch die ZDF-Aufzeichnung vom 29.12. zugänglich. Da ich derzeit in Wien bin, war mir ein Live-Besuch einer anderen Aufführung möglich, nämlich die der Wiener Symphoniker unter Leitung von Klaus Mäkelä im Konzerthaus.
Auf diese Weise entstand ein zweimaliges, höchst diverses und in beiden Fällen herausragendes Beethoven-Hörerlebnis, das hier keineswegs im Duell enden soll – das Werk ist zu stark und vielschichtig, als dass man mit skalierten Urteilen im Sinne von „gut/schlecht“ darauf reagieren könnte, und natürlich kommt dann noch der persönliche Geschmack und die eigenen Beethoven-Erfahrungen (ich durfte an einer Aufführung unter Leitung von David Robertson in diesem Jahr mitwirken, die sich quasi hier noch als dritte Erlebnisschicht einschleicht) hinzu.
Doch zurück nach Dresden und Wien: Thielemann und Mäkelä sind ganz sicher herausragende Vertreter ihrer Generation als Dirigenten – mit ganz unterschiedlichen Horizonten und Erfahrungsschätzen. Mäkelä, der auch Cellist ist, steht am Beginn einer Weltkarriere. Die Orchester reißen sich um den 26-jährigen Finnen, der aus der Panula-Dirigentenlehrschmiede in Helsinki stammt, bereits in Oslo und Paris Chefposten übernommen hat und ab 2027 dem Concertgebouw in Amsterdam vorstehen wird. Thielemann (63) wiederum dürfte man in gerader Linie in eine mitteleuropäische Dirigentenschule einordnen, die noch mit dem Wort „Kapellmeister“ etwas anfangen konnte. Er steht wie kaum ein anderer für herausragende Interpretationen des deutschen Repertoires von Beethoven über Wagner und Bruckner bis etwa zu Richard Strauss. Seine musikalischen Stationen waren Berlin, München, Dresden und immer wieder Wien und Bayreuth – 2024 wird er die Position in Dresden verlassen, mit einem künftigen Chefposten an der Staatsoper Berlin verbinden ihn bereits viele.
Die Neunte indes hat offenbar in diesem Jahr auch (wieder) ihren besonderen Platz und Wert eingenommen. Nicht nur, weil wir nach der Pandemie wieder zu den Konzerten strömen dürfen, sondern weil ein Krieg mitten in Europa uns nicht unbedingt zu grenzenloser Heiterkeit am Jahresübergang auffordert, sondern auch zum Nachsinnen, wie es um unsere Freu(n)de und Freiheit steht. Dafür gibt es nach wie vor kein markanteres, (auf)fordernderes Werk als diese Sinfonie, bei der auch der Schiller-Gesang der „Ode an die Freude“ in subtil verschiedener Haltung musiziert werden kann. Mäkelä und Thielemann haben die Neunte kontextfrei aufgeführt, anders als etwa Ekkehard Klemm in Dresden mit der Elbland Philharmonie Sachsen (mit einer Kantate von Lothar Voigtländer gepaart) oder Vladimir Jurowski mit dem Rundfunksinfonieorchester in Berlin (UA von Rolf Hoyer und geteiltes Pult mit der ukrainischen Dirigentin Natalia Ponomarchuk).
Thielemanns Zugang zur „Neunten“ ist offen konservativ, in einer Strenge, der manchmal die Emotion und Freude zugunsten einer fast existenziell wirkenden Deutlichkeit abgeht. Thielemann hört in bester Kapellmeistertradition seinem Orchester zu und greift nur ein, wenn die Balance es benötigt. In dieser Aufführung entstehen extrem langsame Tempi, auch Verzögerungen an Übergängen sind völlig normal. Thielemann zelebriert die Sinfonie in bedächtigem Nachsinnen, was zwar aufgrund der Fähigkeiten des Orchesters zu ausgespieltem Schönklang führt, aber eben auch zu steifer Folgsamkeit. Das allerdings ist angesichts der vielen Motive und Aussagen, die Beethoven satz-, phrasen- und sogar taktweise auffächert, ein merkwürdig korsettierender Zugang zum Werk. Und generell fragt man sich bei der Dresdner Aufführung: wo ist eigentlich Thielemanns eigene Freude geblieben? Natürlich ist der hohe Anspruch, das bedingungslose Fordern und Folgen eine Stärke seiner Art, aber immer weniger zeigte sich ein Loslassen oder eine emotionale Leichtigkeit, sei es aus ihm selbst oder dem Werk heraus erzeugt.
Am Ende des 1. Satzes findet Thielemann nicht mehr aus dem langsamen Tempo nach dem Ritardando zurück. Schon hier habe ich mich auch über unscharfe Punktierungen und Einsätze gewundert, die nicht wirklich zusammen waren. Regelrecht erschrocken war ich über die langsame Darstellung des 2. Satzes, von einem „molto vivace“ war da nichts zu spüren, und auch eine geheimnisvolle Atmosphäre, die ja eine Temporücknahme vielleicht begründet hätte, tauchte nicht auf. Es mag sein, dass sich dies in Thielemanns Gesamtkonzept fügte, das Strenge und Ernst in den Mittelpunkt rückt. Selbst im vierten Satz findet keine wirkliche Wandlung statt, denn der Satz wirkt vor allem energisch und wird im Chor (der Sächsischen Staatsoper, Einstudierung André Kellinghaus) laut und vehement, vom Solistenquartett (Camilla Nylund, Christa Mayer, Klaus Florian Vogt und Georg Zeppenfeld) hingegen edel besänftigend musiziert, erstaunlich, dass ausgerechnet hier ein Trostmoment aufscheint.
In den letzten Takten pustet Thielemann kräftig durch. Ist denn diese Sinfonie tatsächlich ein Werk, in dem man sich im Wortsinn so abarbeiten muss? Oder ist hier einfach zu respektieren, dass dort eben nicht „Friede, Freude, Eierkuchen“ steht, sondern sich diese Töne an unser Innerstes wenden? Vielleicht liegt die Lösung doch im pastoralen dritten Satz, der bei Thielemann nach wie vor auch das feinsinnige Zentrum der Auseinandersetzung bildet.
Damit nach Wien. Dort gibt Klaus Mäkelä sein Debüt bei den Wiener Symphonikern, kürzlich war er erst mit seinem Osloer Orchester im Konzerthaus Wien und führte dabei gleich einmal alle sieben Sinfonien von Jean Sibelius auf. Nicht nur deswegen war wohl auch diesmal das Haus ausverkauft, auch in Wien ist die Beethoven-Aufführung Tradition. Und gleich mit den ersten Takten wurde klar, dass diese Aufführung eine ganz andere Atmosphäre atmet. Mäkelä baut die Sinfonie auf einer ganz feinen, schwingenden Pulsierung auf, was dem ersten Satz gleich eine ungeheure Spannung verleiht. Dabei ist dem jungen Dirigenten die schlichte Freude über die Musik und dem, was er im Orchester auslöst, stets anzusehen – die „Ode“ ist damit schon im d-Moll des 1. Satzes vorbestimmt, Mäkelä begreift das Stück als Ganzes, auch wenn nach jedem Satz einige Fans tatsächlich die Aufführung mit Zwischenapplaus garnieren.
Der zweite Satz ist bei Mäkelä flott, flüssig und erneut pulsierend, das heißt, mit ihm gehen auch an keiner Stelle die Pferde durch – es ist keine exaltierte oder exhibitionistische Interpretation, stattdessen haftet diesem Beethoven etwas durch und durch frühlingshaft Hoffnungsvolles an. Die Symphoniker betören vor allem durch eine andere Art von Präzision, die aus einer weichen Einigkeit besteht und fast kumpelhaftem Zusammenraufen in den Bläsern, das klingt dann unter Mäkeläs straff-fordernder Hand manchmal fast wie eine Banda, gar mit Flöte dynamisch vorneweg. Dieser etwas rau gebürstete Sound ist durchaus anders als der Goldklang in Dresden, gelten lassen darf man beides.
Wenn man sich wirklich von Mäkelä etwas wünscht, dann ist es das Zaubern in leisen Gefilden, was noch das Sahnehäubchen gewesen wäre, die Symphoniker sind leider im offenherzigen Konzerthaus nicht ganz von ihm dimmbar, der 3. Satz ist daher fast ein wenig zu präsent unterwegs. Energisch sind dann auch die Rezitative von Bässen und Celli im 4. Satz, aber anders als bei Thielemann bekommt Mäkelä hier wirklich eine direkte Ansprache hin, die weniger pathetische Rede als vielmehr dringender Appell ist. Hier muss etwas geschehen, sagt die Musik, und der Chor (Wiener Singakademie, Einstudierung Heinz Ferlesch) stimmt freudig ein.
Vom Orgelbalkon allerdings ist dann ein Quartett zu hören, das eindeutig (Spiel-Satz-Sieg) an die Damen geht und auch in den wenigen Passagen eher an sportive Veranstaltungen erinnert, denn vor allem der Bassist Shenyang hat seinen riesigen Bass nicht im Griff, und der finnische Tenor Tuomas Katajala gibt einfach zuviel Stahl in die Tenorstimme, lediglich die Damen Chen Reiss und Hanna Hipp überzeugen mit schlanker Führung ihrer Stimmen.
Klaus Mäkelä bringt diese Aufführung am Schluss mit Verve „nach Hause“ und laute Jubelrufe aus dem am Ende geschlossen stehenden Auditorium beweisen, dass vielleicht die positive Strahlkraft der Musik mit authentischem, eigenen Talent zu unterstützen tatsächlich ein Rezept ist, was bei der Neunten aufgeht. Damit ist sowohl die Zukunft der Sinfonie, als auch vermutlich die von Mäkelä gesichert – der sich im Übrigen schon im März erneut in Wien, dann mit dem Orchestre de Paris und Mahlers Auferstehungssinfonie, blicken und hören läßt.
Fotos (c) Alexander Keuk (Titel), Matthias Creutziger (3)
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