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Aufgehobene Distanzen

Jörg Herchets Kantate zum 3. Sonntag nach Epiphanias in der Musikhochschule

Zu einem Gesprächskonzert mit dem Komponisten Jörg Herchet lud die Dresdner Musikhochschule, wo Herchet viele Jahre als Professor für Analyse und Komposition wirkte, am Donnerstagabend ein. Nur ein einziges Werk stand auf dem Programm: die „komposition für violine, violoncello, klavier und publikum“, gleichzeitig betitelt als Kantate zum 3. Sonntag nach Epiphanias von Jörg Herchet. Bereits im März wurde die Kantate im Leonhardi-Museum uraufgeführt, doch konnten sich die Interpreten und der Komponist glücklich schätzen, das Werk im Laufe des Jahres in mehreren sehr unterschiedlichen Räumen erklingen zu lassen, denn die Kantate bezieht nicht nur die Raumwirkung ein, sondern hebt auch die Distanzen auf, indem das Publikum an zwei Stellen zur Mitwirkung eingeladen wird.

Herchet begann seinen Zyklus mit Kantaten zum Kirchenjahr 1978; seitdem sind viele höchst unterschiedliche, in ihrer genuinen Kreativität immer wieder neu faszinierende Werke entstanden, die die jeweiligen Themen des Glaubens beleuchten, aber auch in Reflektion zum Menschen der Gegenwart setzen und dafür eine spezifische literarische und musikalische Ausdruckswelt erschaffen. In der Kantate zum 3. Sonntag nach Epiphanias, dem Dreikönigstag, ist schon die Besetzung ungewöhnlich: die Kantate kommt ohne Chor, Solisten, Orchester aus, stattdessen ist ein Klaviertrio Protagonist der Musik. Die drei Musiker sind auch gemeinsam mit dem Publikum Träger des Textes (Jörg Milbradt), dessen Auskomposition im Stil einer „Lesung“ verbleibt und daher nah an den von der Kirche her gewohnten Rezitationen und einfachen Gesänge verbleibt.

Überraschend sinnfällig war die Einbeziehung des Publikums als Laut-Träger: die für jedermann sofort umsetzbaren Anweisungen der Lesung sorgten für eine mal individuelle, mal chorisch organisierte Klangebene. Das aufführende Dresdner elole-Klaviertrio und der Komponist gaben wertvolle Einblicke in die Partitur und konnten somit den Zuhörern vor der Aufführung eine Vertrautheit vermitteln, die nicht belehrend oder akademisch geriet. Dafür sorgt auch Herchets in diesem Werk überraschend bildhafte Musiksprache, die aber niemals totale Identifikation oder Eindeutigkeit fordert, doch lädt sie an vielen Stellen nicht nur zum Genuss (wie die „Lieblingsstellen“ der Musiker bewiesen), sondern auch zur tiefergehenden Beschäftigung mit dem Thema ein – Herchets Einbeziehung des Zen-Buddhismus baut gottlob nicht auf Orientalismen, sondern führt behutsam etwa an die Wahrnehmung und Auflösung von erlebter Zeit heran.

Die Aufführung selbst geriet zu einem starken Erlebnis für alle: der nahezu ökumenische Gedanke der Kantate hin zu einer offenen Frage zum Bezug zwischen Wort, Glaube und Wunder manifestierte sich in Text wie Musik so zwingend, dass man nachgeradezu froh war, keine klassische oratorische Umsetzung vor sich zu haben. Immer wieder fanden sich in dem klar strukturierten Werk deutlich gezeichnete instrumentale Bilder, die durch die starke Umsetzung von elole wie eine Art geistige Wanderung durch eine Klanggalerie wirkten. In der passenden Form des Gesprächskonzertes wurde auch die immense Bedeutung des Kantatenzyklus von Herchet offenbar – nach Johann Sebastian Bach dürfte er der erste Komponist sein, der in der Neuzeit auf eine ähnlich intensive, zeitgenössische Art und Weise, zum Kirchenjahr Fragen stellt, Haltungen formuliert oder reflektiert und damit die Auseinandersetzung mit dem Glauben heute fördert – ein humanistischer Ansatz letztlich, für den man in der Verbindung mit der Musik nur dankbar ist.

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Veröffentlicht in Rezensionen

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