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Plötzlich lächelt Strawinsky milde

Rezital des Klavierduos Katia und Marielle Labèque im Kulturpalast Dresden

Gäbe es so etwas wie die Charts des Klavierduos, so dürften die Schwestern Katia und Marielle Labèque seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten in den Top Ten stehen. Weltweit sind die Labèques für ihr innovatives Spiel geschätzt, das vom Barock bis zu Uraufführungen, Crossover und Jazz keinerlei Grenzen kennt. Was sie auszeichnet, ist der hohe Anspruch an die Interpretationen gepaart mit einer bis heute ungebändigten Neugier. Derzeit sind Katia und Marielle Labèque Artists in Residence bei der Dresdner Philharmonie und am Sonntagvormittag gaben sie ein Klavier-Rezital, das in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich war, aber deswegen auch „ganz Labèque“.

Zu Beginn standen Igor Strawinskys Bilder aus dem heidnischen Russland „Le Sacre du Printemps“ auf dem Programm – während zeitgleich in der Semperoper zu Gustav Mahlers 3. Sinfonie der Frühlingsgott Pan erwachte, wurde ihm hier also bereits fleißig geopfert. Das Ballett sorgte für einen historischen Skandal bei der Pariser Uraufführung, heute ist es ein Klassiker der Konzertliteratur. Die Labèques entschieden sich für eine Originalfassung des Komponisten für zwei Klaviere – auf 176 Tasten ist das orchestrale Toben gut darstellbar, zudem hat man volle Körperfreiheit, was bei der vor allem in rhythmischer Hinsicht höchste Ansprüche stellenden Partitur ganz hilfreich ist. Schon in der melodiösen Einleitung konnte man die Präferenzen der Interpretation wahrnehmen: hier zählte das exakte Timing, das aber nicht mühsam produziert erscheint, sondern traumwandlerisch sicher aus den ersten Takten heraus für das ganze Stück gestaltet ist.

Tempo, Anschlag und Ausdruck gehen bei den beiden sofort eine nahezu magnetische Verbindung ein. Und ausgerechnet die Pausen faszinieren, weil sowohl Katia als auch Marielle aus der spannungsgeladenen Ruhe heraus den nächsten Vulkantanz bereits vorspüren, sich aber dafür dennoch zentrieren. So wirkte dieser „Sacre“ an keiner Stelle heruntergedonnert oder verpulvert, man hatte sogar das Gefühl, die Labèque-Schwestern wären explizit dem konstruktivistischen Ausdruckspotential auf der Spur, so konzis vermieden sie Pedal-Legato, übermäßige Phrasen-Artikulation oder hysterisches Tanz-Toben. Und plötzlich lächelt Strawinsky milde, ist das Skandal-Stück von 1913 ein Ritual, das wir alle kennen, aber auf diese Weise neu lieben lernen dürfen. Schon dafür gab es großen Applaus im ausverkauften Kulturpalast, aber die Schwestern überraschten auch im zweiten Teil.

Wäre das Konzertprogramm nämlich allein auf Wirkung erstellt worden, so würde man sicher als letztes auf die „Six Épigraphes Antiques“ von Claude Debussy kommen – ein Stück, in dem (fast) nichts passiert und selbst die wenigen Äußerungen so vage und pastellen daherkommen, dass die beiden offenen Flügel demgegenüber wie ein großes Insekt wirken. Und genau das hat das Klavierduo aber so hervorragend im Griff: kleinste Nuancen wie durch ein Makro-Objektiv zu betrachten, ohne dass die Musik ihre gezeichnete Schriftart verliert. Schnörkellos nennt man dies, und bei keiner anderen Musik wie dieser passt der Begriff wunderbar, denn so wird Debussys kristalline Traumwelt herrlich aufgeblättert – entstanden ist das interessanterweise just ein Jahr nach der Uraufführung des „Sacre“.

Das Abschlusswerk des Rezitals eröffnete noch einmal eine neue Welt, aber mit der Entführung des Zuhörers in die minimalistischen Patterns der „Four Movements“ (2008) von Philip Glass trat eigentlich nur eine weitere assoziative, programmlose Welt hinzu, in die man sich tranceartig fallen lassen konnte. Insofern wohnte dem gesamten Rezital eigentlich das dramaturgische Thema der Fläche inne – hier einmal rotierend in bewegten Schnipseln des Bekannten, jedoch „ent-mollt“, von jeglichem romantisierenden Ausdruckswillen enthoben. Fabelhaft auch hier wieder das gemeinsame Timing der Labeques: nicht nähmaschinenschnurrend, sondern mit Emphase und Übersicht, letztlich dem spannenden Live-Erlebnis und der Konzentration huldigend. Dafür gönnten sich die beiden einen Hundertjährigen zur Zugabe: Der Kniefall vor Leonard Bernstein reichte nur bis zu den Tasten – ab da regiert „Labèque“, und auch in dieser Musik fühlten sie sich ganz zu Hause.

  • CD-Tipp: Katia und Marielle Labèque, „Invocations“ (Deutsche Grammophon, 2017), Werke von Strawinsky und Debussy
  •  *Katia und Marielle Labèque sind erneut mit der Dresdner Philharmonie am 16. und 17. Juni zu erleben, dann steht die deutsche Erstaufführung des Konzerts für zwei Klaviere des US-Amerikaners Bryce Dessner auf dem Programm.
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