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Orchesterkonzerte im Kulturpalast

Valery Gergiev, Mariinsky Orchester St. Petersburg, 20. Mai 2017, Dresdner Musikfestspiele
Schostakowitsch: 5. Sinfonie d-Moll Opus 47, Richard Wagner: Orchesterstücke aus Parsifal und Götterdämmerung, Brünnhildes Schlussgesang aus „Götterdämmerung“ (Eva-Maria Westbroek, Sopran)

Marek Janowski, Dresdner Philharmonie, 21. Mai 2017
Gustav Mahler: 6. Sinfonie a-Moll

24 Stunden lagen zwischen diesen beiden Konzerten mit ausladender Sinfonik von Mahler und Schostakowitsch. Dazu zwei Weltklasse-Orchester, die aber in ihrem Wesen und in ihrer Geschichte sicher unterschiedlich nicht sein können, aber beide über hervorragende Qualitäten verfügen. Und beide in dem einen Saal, der gerade erst eröffnet wurde und noch mit Klängen gefüllt, erfüllt, erfühlt und erfahren sein will. Daher habe ich mir über einige Aspekte dieser beiden Konzerte ein paar Gedanken gemacht. Schreibend möchte ich mir über meine eigenen Eindrücke und Präferenzen klar werden und bin hier nicht als Gutachter aktiv, setze lediglich einige Erfahrungen als ausübender Musiker, Komponist und Chorsänger sowie als langjähriger Rezensent in Dresden ein – mit der Gefahr, dennoch bei diesem sensiblen Thema falsch zu liegen. Denn was ich höre und hören möchte, kann schon bei meinem Sitznachbarn anders sein, selbst wenn die gleichen Frequenzen physikalisch sein Ohr erreichen.

Die ersten beiden Konzerte (Michael Sanderlings erstes Philharmonie-Konzert im Saal mit Schostakowitsch, Schubert und Beethoven und Marek Janowskis Bruckner-Abend) hörte ich aus der 1. Reihe im 1. Rang, im „K-Block“. Im Dresdner Stadion ist dies der Stehplatzbereich der Dynamo-Fans, hier wird am lautesten geschrien, kocht die Stimmung über. Im K-Block im Kulturpalast hat man einen guten Überblick über den gesamten Saal und man möchte meinen, hier gelangt auch akustisch die Summe der Ereignisse zum Zuhörer. Das bestätigt sich, wenn man, wie ich bei Gergiev, einmal im Parkett (NB: Reihe 13) sitzt. Hier fielen mir Defizite auf, die ich nicht überall klar benennen kann, auf jeden Fall gibt es eine Art Absorption von Gesamtklängen, was zu einem (zu schnellen) Verschlucken und Verschwinden des Klangs im Raum führt – sehr leicht zu erkennen bei ff-Schlussakkorden, die rasant „entfernt“ werden – die angeblichen 2,2 Sekunden Nachhall sind kein Hall, sondern ein Steckerziehen. Das allerdings war auch vom Rang aus schon der Fall, etwa bei einem forte-Bruckner-Schlussakkord, der zwar in sich rund und schön klang, aber ebenso rasch verschwunden war.

Das andere Moment, das aber mit diesem auch zusammenhängt, aber noch mehr subjektiv geprägt ist, ist die generelle Abrundung/Aufweichung der Klänge – gerade auch der Streicher in den extremen Lagen oben und unten -, die dazu führen, dass ich vor allem die Tutti-Klänge zwar als laut, aber gleichzeitig als distanziert empfinde. Die Musik berührt mich physisch nur selten, die körperliche Erschütterung, die in der Semperoper – ich erinnere mich etwa an die „Bassariden“ von Hans Werner Henze mit Beinahe-Gesundheitsschäden noch in der 6. Reihe, obwohl das Orchester aus dem Graben spielte – gefährlich schnell ein „Zuviel“ ist, ist hier deutlich zu wenig. Vermutlich wünsche ich mir für den Kulturpalast einen Löffel der Direktheit der pfeilschnellen Übertragung des Klangs von Hamburg?

Auffällig ist auch, dass diese Defizite fast immer nur im Tutti auftreten, und im Mischklang einer sich schnell verändernden Polyphonie eine besondere Nivellierung eintritt, womit Gergiev in den rasanten Passagen etwa des 2. Satzes der Schostakowitsch-Sinfonie überhaupt nicht klarkam, weil im raschen Tempo des Hinüberbürstens im Orchester nur noch „An/Aus“ möglich war. Damit ohrfeigt man den Saal und der gibt das sofort mit Absorption zurück.

Eine leichte Bevorzugung bzw. Weichheit und manchmal überraschend schöne Mischung der Mittelstimmen ist allerdings evident – im Gegensatz dazu habe ich das Klirren von ff-Passagen insbesondere im Hinzutreten von Vokal-Obertönen bereits in der Beethoven-Rezension erwähnt (etwa beim gefährlich liegenden Sopraneinsatz von „Über’m Sternenzelt“), bei Bruckner war es auch nicht ganz zu vermeiden, obwohl Janowski genau diese „110%“ der Stimmgabe, die zu solchem Overlap führen würden, tunlichst nicht herausgefordert hat. Es wäre allerdings schade, wenn Konzerte zukünftig so abliefen, dass man bestimmte Dinge in der Interpretation nicht darf oder gar vermeiden muss – dass ein Saal den Interpreten an die Kandare nimmt, ist zwar richtig, es darf aber keine Schieflage entstehen, die der musikalischen Freiheit entgegensteht, sondern umgekehrt sollten die Stärken des Saales unterstützt werden.

Die merkwürdig „grauen“, unkörperlich lauten Tutti-Klänge, die vor allem bei Gergievs „al fresco“-Dirigat [dass ich eigentlich als Möglichkeit, die Geschichte der Sinfonie interpretatorisch zu fassen, unbedingt als legitim empfinde (!) ] manchmal offenbar wurden, waren bei Marek Janowskis Mahler VI einen Tag später mit der Dresdner Philharmonie gar nicht vorhanden. Das war eine positive und sehr überraschende Erkenntnis. Hat die Philharmonie schon in dieser kurzen Zeit zu einer Raumsensibilität gefunden? Hat Janowski tatsächlich den Zauberstab (im Gegensatz zu Gergievs Zahnstocher…) in den Händen und hört so phänomenal gut, dass er selbst diese subtilen Obertongeschichten schon spontan im Konzert ausbalancieren konnte? Das wäre sensationell. Es war sensationell, wie insbesondere der schon auf dem Papier der Partitur aufgrund der übereinandergeschichteten Polyphonie chaotisch wirkende Finalsatz der 6. Sinfonie mit Janowski transparent und soghaft auf die – und jetzt Achtung! – voll ausgespielten Höhepunkte zusteuernd klang, während Gergiev einen Tag zuvor zwar einen (fast) perfekten Wagner darbot, der aber selten über eine technische Anlage hinauswies und genau in den Höhepunkten manchmal zu „eng“, zu uninspiriert klang – was meine These unterstützen würde, dass eben 16 erste Violinen in diesem Saal eine Phrase alle mit gleichem Temperament, mit gleicher Technik und dem unbedingten Gemeinsamen agieren müssen, damit Großartiges anstelle eines „Plopps“ entsteht. Das aber sollte doch selbstverständlich sein? Richtig, aber dieser Saal scheint es noch einmal herauszufordern.

Und Eva-Maria Westbroek sang ihre Brünnhilde mit Gergiev am Pult zwar phänomenal gut, aber genau das vokale fortissimo einer Wagner-Sängerin im Zusammenklang mit vollem Orchester führte zum Zusammenziehen der Gesichtsmuskulatur des Autors dieser Zeilen im Parkett – dabei ist kein Ton falsch oder intonatorisch knapp, dennoch war es eigentlich phasenweise unaushaltbar. Für diese Überzeichnung des Klangs habe ich noch keine wirkliche Erklärung. Das ist wirklich schade und hoffentlich noch korrigierbar.

Ein „offline“-Kommentar, der nicht zum Gespräch über Akustik gehört: es war reichlich irritierend, in die nahezu traurig-ausdruckslosen Gesichter der russischen Musiker am Ende des Konzertes zu schauen, womöglich von Tourstrapazen gezeichnet, nicht wirklich Lust an der Darbietung verbreitend. Gergiev dirigerte keine 48h später auf dem Trafalgar Square in London, nicht Mariinsky, sondern das London Symphony Orchestra. Von alldem soll der Zuhörer möglichst nichts mitbekommen – es ist aber fraglich, ob die Persönlichkeit und Augenblicks-Präsenz Gergievs, der sich natürlich auch in diesem Konzert emotional völlig verausgabte und auch akustisch seine Einsätze geräuschvoll begleitete, für das Bild einer überzeugenden Gesamtinterpretation solch komplexer Werke genügt. Zudem geriet die Kopplung Schostakowitsch-Wagner zu einem merkwürdigen Showcase: beides war beeindruckend, aber eigentlich sollte eine Darbietung der Fünften ausreichen, um drei Wochen lang keine weitere Musik zu hören, erst recht nicht ein Wagner-Pasticcio nach der Prosecco-Pause…

Zurück zur Akustik: Bei Mahler saß ich wieder oben im 1. Rang und kann ergänzen, dass es verschiedene Klangkombinationen gibt, die äußerst saalfreundlich sind. Dazu zählen nahezu alle im „warmen“ Mittelstimmenbereich (kleine und eingestrichene Oktave) angesiedelten Passagen, auch die Soli in der Schostakowitsch-Sinfonie breiteten sich wunderbar aus, da bildete auch die Pikkolo-Flöte keine Ausnahme. Was Friedbert Streller bei Bruckner monierte (voller Blechsatz verschmilzt nicht), finde ich gerade hervorragend gelungen und muss ihm daher deutlich widersprechen: selten habe ich so intensive Bläser-Choräle gehört, konnte man sich in Trompeten- oder Posaunenklänge so gut einhören. Das betrifft sowohl Mariinsky, gerade auch in den leiseren Wagner-Bläserpassagen, als auch die Dresdner Philharmonie. Morbid und belastend, aber phänomenal gut klang etwa auch die Coda der Mahler-Sinfonie mit der stechend abwärts geführten Soloharfe, was ich (pro Saal!) fast noch spannender fand als die beiden Hammerschläge, die aber sehr perfekt „im Akkord“ saßen und ganz sicher auch die von Mahler beabsichtigte trocken-endgültige Klanglichkeit besaßen. Auch im Holzbläserbereich gelingt Wunderbares und wenn Janowski dann noch in der Mahler-Sinfonie solche herrlichen Stimmen wie eine kurze Passage mit zwei Englisch-Hörnern hervorholt, dann freut man sich auf die nächsten Konzerte.

Schon heute kommt der nächste große Orchestertest für den Saal: Das London Philharmonic Orchestra spielt unter Leitung von Vladimir Jurowski zwei Konzerte bei den Musikfestspielen mit insgesamt sechs verschiedenen sinfonischen Werken. Ich bin sehr gespannt.

Foto (c) Oliver Killig

Nachbemerkung
Nachdem ich gestern und vorgestern beim Gastspiel des London Philharmonic Orchestra (Konzertrezension folgt) in Reihe 8 saß, muss ich den Artikel revidieren beziehungsweise um diese Erfahrung erweitern: Ich hatte nun einen weitaus besseren Eindruck aus Reihe 8 als am Freitag aus Reihe 13. Mahler vom Rang war ohnehin noch einmal special. Und nicht vergessen darf man, dass es sich um drei verschiedene Orchester handelte, die zudem Stücke mit sehr unterschiedlichen Aufgaben und Klanglichkeiten auf den Pulten hatten. Erfahrung aus Reihe 8: insbesondere die Streicher klingen im vorderen Saaldrittel präsenter, die Bläser bleiben hervorragend. Nachdem ich am Montag eine hervorragend differenzierte und sehr schön ausmusizierte Mahler IV hörte, kam der nächste Schock am Dienstag in Prokofievs Cellokonzert. Erneut schluckte der Saal Töne weg, diesmal beim Solo-Cello in vielen Passagen, wo das Orchester in ähnlich dichter Weise begleitet. Wieder war dann die Distanz da, wo eigentlich der Solist ganz vorne im Hörspektrum des Raumes sein sollte. Auch der Schlussakkord der 15. Sinfonie von Schostakowitsch, der eigentlich eine Weile im Raum verbleiben muss, verschwand derartig schnell, dass man von einem „Verklingen“ nicht sprechen kann. Hingegen waren es die Blechbläser-Pianissimi, die wiederum überzeugten und sich total warm im Saal entfalteten, weniger gut kamen die Höhepunkte der Schostakowitsch- (2. Satz) und Mahlersinfonie als Gesamtklang an, insbesondere den intonatorisch von der Pauke nicht gut eingestellten Höhepunkt im 3. Satz bestrafte der Saal sofort. Vermutlich verträgt der Saal noch viel mehr extremes Spiel und Kontrastierung, absolut unabdingbar erscheint aber ein Aushören von Polyphonie – bei drei oder mehr Ebenen verwischt alles, sobald die Aufgabenverteilung nicht klar gegeben ist. Das wiederum gelang Jurowski mit einer bärbeißig-wütenden Steigerung im Finale der 15. Sinfonie von Schostakowitsch mindestens so hervorragend wie Janowski zuvor. Der Kulturpalast ist kein Saal für halbe Sachen, soviel ist klar.

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Veröffentlicht in hörendenkenschreiben Rezensionen Weblog

4 Kommentare

  1. Martin Martin

    Ich glaube, du meinst Adsorption, nicht Absorption, oder? Es gibt beides.

  2. du hast viel treffender beschrieben was ich ebenso empfunden habe – als ’nur‘ musik-hörer, kein ausübender musiker. und ich sass genau 5 reihen hinter dir. alles was nicht zu laut ist klingt unheimlich gut! und der hammer war der hammer!

    darf ich deinen beitrag noch bei mir verlinken? ich versuch dich auch nicht mehr als taxifahrer zu engagieren 😉

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