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Membranerzitternd

Zum 50.: das Bundesjugendorchester spielte unter Leitung von Kirill Petrenko in der Elbphilharmonie

„Man sieht dir dein Alter gar nicht an!“ – dieses Kompliment funktioniert zwar bei Personen (und sollte da auch umsichtig gebraucht werden), aber bei Ensembles ist das mit dem Alter so eine Sache. Manche Orchester haben schon einige hundert Jahre auf dem Buckel, die meisten städtischen sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Dass sich auch der Nachwuchs im Orchester spielerisch betätigen darf und sollte, ist eine Erkenntnis des 20. Jahrhunderts und nun stehen wir staunend und gratulierend vor rund 110 Musikern des Bundesjugendorchesters in der Elbphilharmonie in Hamburg und sagen: Wow, 50 Jahre! Man sieht es euch nicht an. Logisch, die jüngsten Mitglieder des Orchesters sind gerade einmal 14 Jahre alt, und keine(r) von ihnen wird den eigenen 50. Geburtstag im Orchester erleben, denn das projektbezogen arbeitende Ensemble gilt als wertvolle Vorbereitung oder Begleitung zur Ausbildung und zum Studium. Gleichwohl ist das BJO, das über den Deutschen Musikrat gemanagt wird seit Jahren Aushängeschild hervorragender Instrumentalausbildung in Deutschland, denn: nur die Besten spielen natürlich mit. Die Nase trägt trotzdem keiner oben, denn hier geht es nicht um Hausmusik mit Opapa und Schwesterlein , sondern um handfeste Brocken der Orchesterliteratur.

Zum 50., der eigentlich erst mit dem kommenden Frühjahrsprojekt (mit Edgard Varèses „Amèriques“ und Ingo Metzmacher) offiziell begangen wird, trägt man ordentlich auf, aber das BJO war auch in seiner Geschichte eher selten für ziselierte Sinfonietten zu haben, schließlich soll auch vielen Jugendlichen das Mitspielen ermöglicht werden. Steht aber gerade nicht Havergal Brians „Gotische Sinfonie“  auf dem Plan (na, wie wär’s, zum 60.?), ist bei 8 Hörnern eben meistens Schluss. Trotzdem war am Dienstag die Bühne in der Elbphilharmonie randvoll, und das lag vor allem an der opulenten Schlagzeugbesetzung aller drei gegebenen Stücke: Bernsteins Tänze aus „West Side Story“, Krafts Paukenkonzert und Strawinskys wüstbares Frühlingsopfer. Rhythmus, Tanz, ja und auch Orgie und Exzess hatte sich das Konzert auf die Fahnen geschrieben, dabei aber gleichzeitig auch den interpretatorisch höchsten Anspruch, indem man keinen geringeren als Kirill Petrenko als Dirigent für dieses besondere Projekt gewinnen konnte – 2009 leitete er schon einmal ein Projekt des BJO.

Der designierte Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gilt ja als Spezialist für Sinfonik diesseits der Wende zum 20. Jahrhundert, und wird es opulent, scheint sich Petrenko erst recht wohlzufühlen in den hochhausragenden Architekturen, in denen er immer noch ein Vestibül des Klangzaubers findet oder mit körperlicher Zurücknahme im Tosen des Orchesters eine Art Wellenreiten unternimmt. So auch gestern in der Elbphilharmonie: was diesen Werken an diesem Ort den Todesstoß versetzen würde, wäre der schweißtreibende Taktschläger (macht auch Rücken, übrigens). Petrenko aber hört, gestaltet, nimmt viel Kontakt auf und vereint in seinen Gesten die Sicherheit, dass Bestimmtheit und weiches Fließen sich nicht gegenseitig ausschließen muss.

So erscheinen Bernsteins Tänze kurvig, aber nicht brüsk umhergeschleudert, und im Ausspielen eines schönen pianos steckt eben viel mehr als bloß ein „bitte leiser“. Was Berufsorchestern leider ab dem siebten Walzer des vierzehnten Neujahrskonzerts dann doch manchmal abgeht, ist hier schon in der ersten Nummer spürbar: die Mädchen und Jungs haben Spaß. Auch wer nicht spielt, erfreut sich sichtbar an der Melodiekurve des Nachbarn und die Kontakte sind nicht nur zum Dirigenten in erwartungsvoller Vorfreude, sondern auch untereinander hervorragend vernetzt – ist das Konzert nicht doch das besser „social media“, bei dem eben alle gleichzeitig zählen und sichtbar werden? Doch für solche Gedanken ist im Konzert kaum Platz, schon schnipst alles, was nicht ein Fagott umarmen muss, im Bernstein-Takt und im fein glitzernden Schluss meldet sich auch die Elbphilharmonie selbst zu Wort: guckt mal, wie toll das hier klingt. Dabei war das erst der Beginn des Konzertes, das quasi komplett auf der Hochspannungsleitung stattfand.

Der US-Amerikaner William Kraft (nomen est omen) ist ein hierzulande eher unbekannter Komponist, sein 1983 geschriebenes Paukenkonzert hat es dennoch hier und da in die Konzerte geschafft. Problem: man braucht jemanden, der das erstmal spielen kann (und will), denn schon beim Zuhören wird einem schnell schwindelig: Moment, der gute Mann hat doch nur zwei Arme, ich habe eben mindestens fünf gesehen. Wieland Welzel, seit über 20 Jahren Pauker bei den Berliner Philharmonikern, wirbelt und donnert, schwingt und fliegt, und manchmal streichelt er seine Paukenfelle, bis ganz unfassbare Töne ans Ohr dringen. Schlaginstrument? Das, so lernen wir am heutigen Abend, ist viel zu kurz gegriffen. Schwieriger erscheint, das Ausdrucksvermögen des kompletten Werkes zu erfassen.

Mit der manchmal schroffen Faktur der Komposition, die etwa auch die Streicher seltsam ignorant behandelt, muss man im Ohr erstmal klarkommen. Am besten gelingt das mit der Verzahnung der Motive und etlichen kanonischen Effekten und Echos, die Petrenko und das BJO mit viel Sensibilität herausarbeiten. Welzels Zugabe fragte bescheiden und augenzwinkernd nach dem Sinn von Encores: „Sie klatschen alle, da habe ich mich gefragt, was macht man da als Pauker?“ Hummelflug und Bach-Suite fallen aus, also hat sich Welzel selbst eine Etüde komponiert, die vierschlegelig mit dem harmonisch sanft Changierenden noch einmal eine neue klangliche Qualität der Pauken vorstellte. Großer Applaus. Und immer noch kein Ende, gottlob.

Igor Strawinskys heidnische Bilder „Le Sacre du Printemps“ sorgen nach der Pause für die Bündelung aller Kräfte. Was 1913 noch für tumultartige Szenen sorgte, kommt heute zwar im Klangergebnis – hat man den richtigen Ausdruck samt richtigen Mann am Pult erwischt – selten braver daher, trotzdem ist das Stück längst ein Klassiker geworden. Ausdruck ist jedoch (und das ausgerechnet bei Strawinsky!) listigerweise das Zauberwort, womit dieses Stück wirklich erst zum Leben erweckt wird. Zählen können die Jugendlichen sowieso alle und Petrenko vermittelt von vorne eine poulencfreundliche Sicherheit. Nur steht der nicht auf dem Programm, und so darf die Schlagzeuggang erneut brillieren. Exakt hier liegt die Höraufmerksamkeit, weil die sieben jungen Leute sich nicht nur um Erfüllung bemühen, sondern den etwa zu viert an zwei großen Tam-Tams ausgeführten Bacchanalen eine liebevolle Exaktheit schenken, die Strawinsky noch einmal vergoldet. Plötzlich bekommt die immerhin 105 Jahre alte Partitur wieder Wumms und Drive und Petrenkos Selbstverständlichkeit hebelt manche Kleinteiligkeit kompositorischer Anstrengung mühelos und sofort aus: das mächtige Gebilde beginnt dann im hinreißenden Getöse in sich selbst eine Schwingung zu erzeugen, in der man minutenlang im Strudel verschwindet und sich anschließend vergewissert: ja, ich, Hamburg, jetzt im Konzert, bin noch da, nicht geopfert.

Minimalste Freudenschmälerung kommt zu Beginn des zweiten Teils auf: da nämlich, wo plötzlich klassische Tugenden in der Agogik gefragt sind, bugsiert das BJO an einer haarscharfen Kante zwischen Freiheit und Kontrolle. Einige Momente lang scheint es mehr Mut zu benötigen, einen melodiösen, tragenden Bogen zu spannen als auf die sprichwörtliche Pauke zu hauen. Dann, Stöpsel wieder rein, Gehörschutz ist auch bei den jungen Leuten wichtig, wird wieder großtrommelig getanzt, natürlich nicht im ¾-Takt, wir sind ja hier nicht in Thielemanns Neujahrswien. Im zweiten Teil läßt Petrenko dann noch mehr die Zügel locker und führt die Musiker zu einem atemberaubenden Final-Riss-Schluss, bei dem kurz die Membrane der Elbphi zu flattern scheinen. Bringt sie bitte auch die nächsten 50 Jahre zum Erzittern, liebes Bundesjugendorchester. Gratulation!

Foto (c) Alexander Keuk

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