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Die Dresdner Philharmonie wird 150

Gegenwartsbefragung durch die Kunst: Das Städtische Orchester feiert Jubiläum.
Eine Betrachtung von Alexander Keuk

Als der Postbote klingelt und ich die Festschrift zum 150. Geburtstag der Dresdner Philharmonie in den Händen halte, denke ich, Moment, eine Festschrift gab es doch schon mal. Und richtig, im Bücherregal findet sich der Band zum 125. Geburtstag von 1995. Eine andere Zeit, andere Bilder, gar andere Klänge? Noch bevor ich darüber sinnieren kann, in welcher Geschwindigkeit ein Vierteljahrhundert vergeht, drängen sich die Bilder von damals in den Vordergrund. Und lassen die Gewissheit wachsen, dass ich, als ich Dresden als Lebensmittelpunkt wählte, mich auch für die Musik entschieden habe, die in dieser Stadt eine sehr gewichtige Rolle spielte und gottlob heute noch spielt, und zwar in ebenso selbstverständlich, traditionell gewachsener Weise wie auch immer mit etwas Exzentrik ausgeführt.

Die Gewerbehaus-Kapelle mit dem Dirigenten August Trenkler im Gewerbehaus, um 1900

Anlässe wie Jubiläen, Gedenken, Feste, Eröffnungen – und tatsächlich auch eine letztlich zu akustischem Glück führende Schließung –  forderten immer Musik heraus, bilden Zyklen im Jahreslauf und sind dazu geeignet, entstandene und entstehende Musik immer wieder neu aufzuführen, in Interpretationen zu ihrem Zeit- und Weltbezug zu befragen. In Dresden ist genau diese Gegenwartsbefragung durch die Kunst eine natürliche, aber auch immer mit Bewusstsein und zielführender Handlung zu unterfütternde Sache für ein städtisches Orchester. Und muss es sein, will sich das Orchester nicht als museales Reproduktions- oder Repetitionsorgan begreifen. Das wurde mir im Laufe der Jahre, in denen ich die Konzerte hören und dann auch journalistisch begleiten durfte, schnell klar.

Festschrift 2020

Natürlich bilden Anlässe auch Rituale heraus, über das Kirchenjahr ebenso wie über die spezifische Stadt- oder die reichhaltige Musikgeschichte von Stadt und Region, wobei das bereits in Barockzeiten umtriebige Erzgebirge ebenso wie die städtische Pfeifer- und Kapellentradition frühe Beweise führen, dass in Sachsen die Musik eine gewichtige Rolle im Leben aller einnimmt. Immer wieder diese enorme, sich stetig verändernde und in ihrem Reichtum wachsende Fülle, und damit die ebenso wohltuende wie kontroverse Auseinandersetzung mit Klängen und den diesen innewohnenden Botschaften zu den Menschen zu bringen, das ist der ebenso lapidar formulierte wie immens wichtige Auftrag. Dem folgt die Dresdner Philharmonie bis heute mit einem hohen Anspruch, mit dem immer auch die Eigenverantwortung jedes einzelnen Musikers einhergeht.

Festkonzert zum 100-Jährigen Bestehen am 29.11.1970 im Kulturpalast unter Leitung von Kurt Masur

Ich habe diese Haltung als Zuhörer, aber oft auch als Mitwirkender in chorsinfonischen Konzerten oder mit eigenen Werken beobachten und auch bewundern dürfen. Würde mir an dieser Stelle eine Philharmonikerin oder ein Philharmoniker gegenüber sitzen, würde sie oder er mir vermutlich in aller Bescheidenheit entgegnen: „Wir spielen doch bloß!“, aber am Ende steckt ein ganzes Leben in Musik dahinter, und das hat, diesseits wie jenseits der Bühne, alle Höhen und Tiefen. Es wird ab und an laut und dramatisch, es zwingt zum Hinhören in der Kontemplation, es flieht rasant oder es erstarrt, stumm und tief. Wo ist die Grenze zwischen Musik und Leben?

In Dresden war sie gottseidank selten fühlbar, da konnte ein einziger Philharmonieabend für eine schlaflose Nacht sorgen, für eine Debatte im Foyer oder auch für ein sattes nachtönendes Wohlbefinden – und das gleichzeitig!

Die Dresdner Philharmonie heute – im neuen Saal des Kulturpalastes.

Spätestens hier muss auch das Publikum gewürdigt werden, das nicht nur Unterstützer und Profiteur ist, sondern – das ist in Dresden wie in kaum einer anderen Stadt so erlebbar – in komplexen Verzweigungen selbst in der Musik lebt. Ein kulturell affines Bürgertum mag für Soziologen ein antiquiertes Sujet sein, in Dresden scheint, um mit Jean Jaurès zu sprechen, „die Weitergabe des Feuers“ auch den Philharmoniebesuch zu betreffen. Schon im alten Kulturpalast gab es skeptische Blicke, wenn man sich versehentlich auf einen freien Platz setzte, wo doch jedem klar sein musste, dort sitzen seit zehn Jahren Schulzes mit ihrem Wahl-Abo, nur die Bahn aus Kleinzschachwitz hat wohl wieder Verspätung. Unter vor einigen Jahren noch bis zu 10 000 Abonnenten der Dresdner Philharmonie findet sich eben kaum jemand, der nicht in einem der vielen Chöre in Dresden singt, Verbindungen zum dritten Trompeter auf der Bühne hat oder die Hausmusik bei den Nachbarn auf dem Weißen Hirsch besucht.

jüngste CD-Veröffentlichung: „Il Tabarro“ von Giacomo Puccini

Liebevoll kritisch wird auch jeder neue Ton der Philharmonie begleitet und werden die Uraufführungen goutiert, weil es ja vor der Pause auch einen ohrenschmeichelnden Mozart gab und die Musiker bei Fazil Say oder Cristobal Halffter ebenso engagiert zu Werke gehen wie bei Weber und Brahms.

150 Jahre Dresdner Philharmonie – es ist Zeit zum Feiern! Am 29. November, dem Gründungstag der „Gewerbehauskapelle“ im Jahre 1870, geschieht dies leider nur vor dem Bildschirm oder Radio. Vielleicht nehmen wir alle daran teil und überlegen, welchen Wert diese Musik, dieses Orchester, diese Menschen für uns haben, welche Erinnerungen in uns zur Musik aufsteigen, was wir auch davon gelernt haben und was uns stark macht und zur Haltung zwingt.

Vielleicht hören wir auch in uns hinein und lassen einige Gefühle zu, zu denen uns die Philharmonie immer wieder auffordert und die sie selbst mit Enthusiasmus Woche für Woche in jährlich bis zu 80 Konzerten zelebrieren. Der Dresdner Philharmonie auch künftig unsere Aufmerksamkeit, unser genaues Hinhören zu schenken, könnte auch in zukünftigen Zeiten Balsam für die Seele darstellen und uns in der Begegnung und Beschäftigung mit Kultur zu Menschen definieren. Was könnte schöner, was könnte unverzichtbarer sein als Musik?

Fotos (c) SLUB/Deutsche Fotothek (2), Björn Kadenbach (1)


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Veröffentlicht in Dresden Features Rezensionen

Ein Kommentar

  1. Es ist immer interessant, etwas aus Dresden zu lesen, und dieser Beitrag ist besonders lesenswert.

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