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Welt(en) in Wandlung: Daphne Oram und Shiva Feshareki

CD-Neuveröffentlichung „Turning World“ beim Label NMC

Als ich Shiva Feshareki zum ersten Mal hörte, war dies ein Abend vor vier Jahren im Festspielhaus Hellerau Dresden, wo die 1987 geborene britisch-iranische Turntable-Künstlerin auf die Geigerin Akiko Ahrendt traf. Ich lauschte zwei starken musikalischen Persönlichkeiten, die einen Abend lang schlicht eine gemeinsame Aktion, quasi einen Jam vollführten, der im vollen Bewusstsein des Experiments klangliche Ebenen zwischen Saiten und Samples auslotete. Die Beobachtung, dass Feshareki aus der Fülle ihres Instruments – ihren Turntables mit einem je nach Stück exklusiv eingerichteten Setup weiterer Geräte oder vorproduzierter Klänge – mit großer Kreativität und Seriösität zu schöpfen weiß und dabei weder Genregrenzen noch den offenen Ausgang scheut, machte es für mich interessant, ihre Musik weiter zu entdecken.

Shiva Feshareki ist viel mehr als nur Live-Artistin an den Plattenspielern, wenngleich dies schon hocherfüllend sein kann, denn ein Live-Act von ihr ist mindestens so virtuos und komplex wie ein Violinkonzert, eine Tatsache, die viele unterschätzen, die einen Auftritt an Turntables tatsächlich nur mit „Auflegen“ verbinden. Am Royal College of London klassisch ausgebildet, ist Feshareki zumeist zugleich Interpretin und Komponistin, was sich auch durch die Materialnotwendigkeit erklärt: Feshareki findet Samples, Stücke, Platten in Archiven oder wie im vorliegenden Fall ganze unentdeckte Kompositionen und läßt sie durch sich hindurch gehen, gibt ihnen einen neuen Wert oder schafft ein eigenes Werk daraus. So ist ihr das Wandeln an Grenzen derjenigen Musik, die sie verwendet oder neu erschafft, sehr vertraut – und genau dort verortet sich das Potenzial ihrer eigenen künstlerischen Aussage.

Nicht zufällig hieß ihre letzte LP-Veröffentlichung wie auch ihre eigene Radioshow „new forms“  (2016-19 bei nts, hier nachhörbar) – es liegt in ihrem besonderen Interesse, mittels der sie umgebenden aktuellen wie historischen Musikwelt eine eigene Welt zu erschaffen, Klänge neu zusammenzustellen oder nach ihren Qualitäten live zu befragen. Die Schallplatten in ihrer materiellen Limitierung wie auch in der gleichzeitigen Unendlichkeit der elektronisch-akustischen Bearbeitungsmöglichkeiten fordern sie zu neuen Kreationen heraus, in denen in den letzten Jahren immer mehr Form, Architektur, Raum und deren Wechselwirkungen im Vordergrund stehen.

So heißt ihre neue Veröffentlichung, erschienen beim renommierten Label NMC auch „Turning World“. Der Titel mag ein Sinnbild für die Entwicklung kreativer Prozesse sein, die zeitlich, aber auch in der Tiefe immer neu ausgelotet werden. Dass der Titel aber auch auf „World Turning“ von Fleetwood Mac verweisen könnte, ist angesichts Fesharekis oft überraschend in ihren Sets eingeflochtenen Popklassikern ebenso legitim zu vermuten. Nicht zuletzt befinden wir uns aber mit „Turning World“ auch innerhalb eines Gegenwartsbewusstseins, welches uns durch die aktuellen Weltereignisse in besonderer Weise für Prozesse und Wandlungen sensibilisiert.

Ein Merkmal von Fesharekis Musik ist auch, dass sie für ihre Ideen immer passende Kollaborationen sucht – neben dem Turntable-Duo mit Geige war dies zum Beispiel schon eine abendfüllende Spatialkomposition mit dem Ensemble Modern (Opus Infinity, Frankfurt 2020) oder auch analoge Komposition für ein Streichorchester: Venus/Zohreh, 2018 – beide Stücke kann man auf ihrem SoundCloud-Kanal anhören.

Daphne Oram

Schon seit ihren Studienzeiten beschäftigt sich Feshareki mit der Komponistin und Elektronikpionierin Daphne Oram (1925-2003), deren große Komposition „Still Point“ sie 2018 zu den BBC Proms in der Royal Albert Hall aufführte. Das Stück liegt nun mit dieser CD endlich auf Tonträger vor und ist damit ein wichtiges Dokument, um der Bedeutung der Komponistin mitsamt der Erinnerung und Aufarbeitung ihrer Arbeit und Leistungen gerecht zu werden. Vielleicht trafen deutsche oder französische Komponisten in der ohnehin seriellen Phase nach dem zweiten Weltkrieg eher den Nerv ihrer Auftraggeber, und Großbritannien hatte auch kein Darmstadt, Köln oder Freiburg zur Verfügung – es gab schlicht nur die BBC, die gegenüber Orams Klangexperimenten glatt verlauten ließ, „die Sinfonieorchester der Radiostation verfügten schon über genug Klangfarben“.

Oram muss wohl eine Kämpfernatur gewesen sein. Anstelle ihr Heil in der Flucht zu den europäischen Elektronikgrößen zu suchen, erfand sie eigene Geräte (The Oramics Machine), Synthesizer und Klangsysteme, gründete ein eigenes Institut namens Tower Folly und forschte bis ins hohe Alter über Tonsysteme und Resonanzen. Sehr allmählich erhielt sie in Großbritannien auch Anerkennung und erhielt Forschungs- und Kompositionsaufträge. Trotzdem ist ihr Name bis heute unbekannt, insofern ist Fesharekis Engagement hoch zu würdigen. Hier ist sie die Trägerin und Realisateurin von Orams Ideen und gemeinsam mit James Bulley und dem London Contemporary Orchestra gelingt ihr die späte Erstaufführung und Realisation der Partitur von „Still Point“ nach fast 70 Jahren.

Oram bei der Arbeit an der „Oramics“ Maschine

„Still Point“ von Daphne Oram ist wohl die erste liveelektronische Komposition, die originale Instrumente eines Orchesters und deren Bearbeitung in Echtzeit benutzt. Ihre Inspiration für „Still Point“ bezog Daphne Oram aus ihrer früheren Tätigkeit als Toningenieurin in der Royal Albert Hall während des zweiten Weltkriegs. Damals gab es die Anweisung, dass selbst bei einer Evakuierung die Musik weiterzuspielen hätte, woraufhin sie ein besonderes Setup aus vorbereiteten Plattenspielern für den Raum einrichtete. Der Reiz von „Still Point“ ist dann vor allem auch genau in diesen grenzartigen Phasen zwischen einem konventionell behandelten Orchester (aber auch dort weist die Partitur sehr interessante Fakturen auf) und dessen Wandlung in ein weiterspielendes, digitales Instrument zu finden.

Man darf beim Hören auch nicht vergessen, dass Daphne Oram bei der Entstehung von „Still Point“ (1947-50) ja auf keinerlei Verweise oder Vorbilder zurückgreifen konnte, um so erstaunlicher erscheinen die transformierenden Klänge, die das Orchester und Feshareki hier sensibel auffächern – vor allem der Schluss des dreisätzigen Stücks öffnet noch einmal eine Tür…

Ein Stück aus Fesharekis eigener Feder eröffnet die CD. Damit begibt sich die Komponistin auch in einen interessanten Dialog mit Oram, und man könnte Fesharekis eigenes Komponieren aus der Gegenwart heraus ebenso als Pioniertat in eine offene Zukunft begreifen. Jedenfalls kommt mir dieser Gedanke, da das 2021 bei den Proms uraufgeführte „Aetherworld“ sehr starke Aspekte einer (Ver-) Wandlung besitzt und Chor (BBC Singers) und Orgel (Kit Downes) gemeinsam mit Fesharekis immersive electronics eine faszinierende Eigenwelt erschaffen, die über akustische Gesetze wie Naturtöne und Schallwellen immer noch mit unser bekannten verbunden scheint (und es gibt auch einen historischen Bezug im Stück, der die Zeit-Räume noch mehr weitet!), aber dennoch im positiven Sinne schockierend ist. Während (mindestens) seit Newton über den Äther diskutiert wurde und heute zumeist elektromagnetische Wellen damit bezeichnet werden, kommt dieser Aetherworld noch einmal eine ganz andere Deutung zu, vielleicht die von einer höheren Welt?

Mit Oram und Feshareki lernt man zwei Klangforscherinnen auf dieser CD kennen, die mit ihrem ganz eigenen Weg Horizonte zu weiten wissen, fernab von Genregrenzen oder irgendwelchen Dogmen von neuer Musik – ebenso neugierige Zuhörer sind beiden sehr zu wünschen.

Turning world
Shiva Feshareki: „Aetherworld“ (2021) / Daphne Oram „Still Point“ (1947/50)
NMC recordings D266 (VÖ 27.5.2022, Vertrieb: naxos)

Shiva Feshareki turntables/electronics
Kit Downes organ
BBC Singers
Sofi Jeannin conductor
James Bulley live orchestra mix/electronics
London Contemporary Orchestra
Robert Ames conductor

 

Discover more on the NMC „Inside Turning World“ page

Fotos (c) Zohreh Feshareki (1), Daphne Oram Trust (1), wikipedia-en (1, source), cover: NMC

 


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Veröffentlicht in Features Rezensionen

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