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Ohne jegliche Zumutung

Die Geigerin Esther Abrami veröffentlicht ihr Debüt-Album

Seit wir im Internet entdeckt haben, dass wir uns mit Kochlöffel, Bohrmaschine oder Posaune vor der Kamera präsentieren können und damit viel Aufmerksamkeit und manchmal sogar etwas Geld einheimsen können, ist die Welt nicht mehr wie vorher. Influencer ringen um ihre Followerzahlen, Memes rasen durch die Internetwelt und Beauty-Channels sorgen für den schönen Schein einer Jugend, die vor den Displays aufwächst. Und natürlich hat auch die Klassik die Kanäle entdeckt, wobei hier die Diversität je nach Persönlichkeit und Absicht gottlob noch größer ist.

Die Pianistin Valentina Lisitsa etwa war eine der ersten, die zuerst über youtube ihre Klavier-Interpretationen veröffentlichte, viele folgten ihr nach, nicht jede(r) bekam einen Plattenvertrag. Andere, wie etwa die auch ohne digitale Medien erfolgreichen Geigerinnen Hilary Hahn oder Nicola Benedetti veröffentlichen „100 Days of Practice“, geben ganz nebenbei nicht nur Motivation an junge Instrumentalisten mit, sondern veröffentlichen auch wertvolle Tipps zur Übepraxis. Die Pianistin Olga Scheps wiederum nutzt den Kanal Twitch und streamt dort regelmäßig aus ihrem Übezimmer, wobei dort eine einzigartige Community entstanden ist, die auch mal Horowitz-Aufnahmen diskutiert oder Fingersätze in Urtextausgaben.

Und schon legendär sind die beiden Geiger von „Two Set Violin“, die höchst erfolgreich Klassik und Comedy mit den Möglichkeiten des Videomediums verbinden. Nun hat die Französin Esther Abrami (25), die in Birmingham Violine studiert, ihre erste CD veröffentlicht. Sie besitzt einen eher typischen Unterhaltungskanal bei youtube und tiktok und kann auf sechsstellige Followerzahlen verweisen. Jedes Video hat ein Thema und zielt darauf ab, natürlich mehr Subscriber (Unterstützer) zu bekommen. Da wird die Geige dann manchmal zur Nebensache, wenn Abrami sich etwa im Dirigieren versucht, was spätestens dann kläglich scheitert, als mitten im Video ihr Hund bellt. Egal, Tiere bringen Likes.

Die Argumentation, dass über die Videos „Millionen junger Menschen erreicht werden, die so die klassische Musik für sich entdecken“ (Sony) ist reichlich hanebüchen, wenn man allein die Aufenthaltsdauer bei Videos untersucht, die selten über eine Minute hinausgehen. Und so kommt auch ihre Debüt-CD ohne jegliche Zumutung aus. Sie ist quasi aus der Angst heraus gestaltet, dass die Zuhörer bei einem Stück über drei Minuten Länge abschalten würden, denn auch ein tiktok-Video ist nur gut, wenn es in kürzester Zeit auf den Punkt kommt. Genau das gelingt Abrami aber nicht – man hat die CD schlicht nach gerade einmal 50 Minuten Spieldauer auch recht schnell vergessen. Denn als wären die Originalstücke nicht schon Perlen genug, ist jede der kleinen Piècen auf dieser Aufnahme bis zur Unkenntlichkeit totarrangiert.

Mozarts Nachtmusik ist ebenso nicht mehr erkennbar wie ein Satz aus einem Bach-Violinkonzert. Das offenbar ohne Abrami vorproduzierte „Vienna Radio Symphony Orchestra“ wird auf die Geigerin montiert, die einen Extrakt aus den Paganini-Variationen von Rachmaninow nur durch aufgesetzt jazzigen Einsatz vor dem Takt besonders machen will. Hier und da kommen noch Unsauberkeiten hinzu, wie am Ende des – ebenfalls bearbeiteten – Regentropfen-Préludes von Chopin. Die einzigen klassischen Originalstücke stammen von Clara Schumann und Amy Beach. Die Schumann-Romanze tritt auf der Stelle und vermisst jeglichen musikalischen Fluss, Amy Beach ergeht es nicht besser. Nur die modernen Stücke, die direkt aus der Film- und Musicalwelt stammen, beispielsweise Melodien aus „Chocolat“ von Rachel Portman, klingen weniger bemüht, wie übrigens auch eine Eigenkomposition von Abrami.

Doch da ist noch der Tontechniker, der mal die Geige völlig in den Hintergrund mischt, dann wieder eine halbe Kirche an Toneffekt dazumischt. Einen „wahrgewordenen Mädchentraum“ nennt Abrami ihre Debüt-CD, und dieser scheint wohl aus akustischen Samtvorhängen zu bestehen, weniger aus musikalischer Aussagekraft. Denn durch die dauerhafte Verschleierung läßt sich kaum etwas über Abramis Spiel sagen. Man wird auf eine CD mit klassischen Werken von ihr warten müssen oder scrollt in ihrem YouTube-Kanal weit zurück, wo sie – man höre und staune – Messiaen oder Khatchaturian interpretiert. Das darf natürlich auf keinen Fall dem kaufkräftigen Influencerpublikum zugemutet werden. Fleißig wird schon in den Videos (der nötige Cat-Content wird übrigens zu Satie zugeordnet…) die Werbetrommel gerührt – um die Musik selbst geht es hier wenig.

 


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