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Das Leben feiern

Ragna Schirmer hat die Goldberg-Variationen zum zweiten Mal eingespielt

Sie gelten als eines der besonders faszinierenden Werke von Johann Sebastian Bach und werden natürlich auch von Liebhabern der Klaviermusik als allererstes genannt, geht es um einen Zyklus mit besonders virtuoser, aber eben auch kongenial komponierter Musik – die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Auch wenn die Anekdoten der Entstehungsgeschichte rund um den Namensgeber Johann Gottlieb Goldberg, der seinem schlaflosen Grafen Keyserlingk, dem Gesandten am Dresdner Hof, daraus vorspielen sollte, nicht wirklich belegt sind, taugen die 1741 entstandenen Variationen immer noch für schlaflose Nächte – sei es zum Selbstspielen und Studium oder zum geflissentlichen Hören, was bei Bach merkwürdigerweise zu jeder Tages- und Nachtzeit funktioniert, aber mich noch nie hat einschlafen lassen.

Erst recht nicht in die Schlummerei verfallen kann man bei dieser Neuaufnahme von Ragna Schirmer, in deren bisherigem Pianistenleben die Goldberg-Variationen gleichsam eine Art Betriebsstoff ausmachen. Mit dreizehn Jahren studierte sie das Meisterwerk erstmals ein und spielte es öffentlich, spielte sie dann auch beim Leipziger Bach-Wettbewerb 1992, bei welchem sie als einzige Pianistin in zwei Jahrgängen mit einem Preis bedacht wurde, und veröffentlichte auch ihr CD-Debüt im Jahr 2000 mit diesem Werk – eine hochgelobte Aufnahme, vor allem, da Schirmer damals als junge Pianistin eine gereifte Auseinandersetzung mit dem Kosmos der Variationen zeigte.

Das Stück ließ sie auch weiterhin nicht mehr los (oder umgekehrt?) – es zeichnet ja gerade ein Meisterwerk aus, dass es uns zeitlebens nicht nur nicht mehr verlässt, sondern wir auch imstande sind, daran zu wachsen und immer neue Aussagen dazu zu treffen. Diese Lebensbedeutung mag auf den Hörer ebenso zutreffen, und tatsächlich habe ich manche Variation in ersten besuchten Aufführungen kaum verstanden oder hörte quasi ‚daran vorbei‘, um sie später erst recht und durch eine treffende Interpretation endlich ins Herz zu schließen. Mit dem 30-teiligen Zyklus hat Bach zudem einen faszinierenden Zeitspiegel geschaffen. Wer immer sich diesem Werk nähert, wird als ernsthafter Künstler in den Bann der Zeitläufte ebenso eingebunden wie in die Kraft seiner Künstlerseele.

Ragna Schirmer war wie wir alle von den Kulturkürzungen der Corona-Pandemie betroffen, an den Goldberg-Variationen hielt sie jedoch fest und spielte die 30 Variationen tatsächlich für 30 Menschen im Publikum – mehr waren in den Lockdowns zeitweilig auch gar nicht erlaubt. Damit gelang eine einzigartige Verbindung ganz im Sinne Bachs, der ja auch die „Gemüths-Ergötzung“ auf das Titelblatt einschrieb. Bis Oktober 2020 hatte Schirmer die Variationen so oft wie nie zuvor gespielt – die Aufführungen waren für sie eine ebenso trotzige wie überlebenswichtige „Feier des Lebens“. Die letzte dieser Aufführungen im Steintor-Varieté Halle vor dem November-Lockdown 2020 ist in Bild und Ton aufgezeichnet worden und nun als Doppelcassette CD/DVD erschienen. So hat man selbst die Möglichkeit, sich für Auge oder Ohr zu entscheiden. Und in der behutsamen Regie von Thomas Wieber steht niemand anderes als Bach im Mittelpunkt.

Die Interpretation von Ragna Schirmer erfasst in auch beim Zuhören erschütternden Momenten die unglaubliche Schönheit und Klarheit der Musik ebenso wie die darüberliegenden Stimmungen des Lebens in dieser für uns alle extrem empfundenen Zeit. Und wenn Ragna Schirmer an einigen Stellen besonders zu verharren scheint, oder wenn gerade in den „Variationen a zwei Claviere“ das Perlen der Läufe zu einem rasanten, unweigerlichen Strom zusammenfließt, begreift man erneut die Existenzialität dieser Musik, die uns auch in dieser Zeit hoffentlich nicht entglitten ist. Ragna Schirmer lebt weiter aktiv mit den Goldberg-Variationen, die sie im Februar 2022 gerade als nunmehr drittes Puppentheater-Projekt am Neuen Theater Halle mit dem Regisseur Christoph Werner zur Aufführung gebracht hat. Vielleicht atmen Schirmers Variationen nun ein neues Gefühl, ein vorsichtiges „Danach“? Ein Besuch dürfte sich lohnen.

  • Johann Sebastian Bach, „Goldberg-Variationen“ BWV 988, Ragna Schirmer, Klavier
    Aufnahmeproduzent: Thomas Wieber, CD und DVD, Belvedere, 2022
  • Goldberg-Variationen, Ein Spiel für Ragna Schirmer und Puppen, Theater Halle wieder am 23. und 24. September

 


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Veröffentlicht in Features Rezensionen

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