Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ am Theater an der Wien
In der abwechslungsreichen ersten Saison des Theater an der Wien im Interim im Museumsquartier Wien gab es ja schon einige Perlen und Edelsteine, aber mit der österreichischen Erstaufführung der Oper „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg ist Intendant Stefan Herheim ein Coup gelungen, und das liegt vor allem an der hohen Qualität der Inszenierung, an einem genial zusammengestellten Ensemble, aber natürlich auch am Stück selbst, das nun eine wirklich fällige gute Neuproduktion erfährt.
Dass man mit Erstaunen liest, dass die Uraufführung der 1986/87 komponierten letzten Oper von Mieczysław Weinberg erst 2013 in Mannheim stattgefunden hat und seitdem auch nur wenige weitere Produktionen stattfanden, liegt vermutlich an dem fehlenden Mut, sich in unserer schnelllebigen Zeit für Dostojewski-Adaptionen im Musiktheater zu begeistern. Doch nach der Renaissance des Weinberg-Werks im letzten Jahrzehnt, das nach den Erfolgen der „Passagierin“ etwa in Frankfurt, Dresden und Graz auch das Opernschaffen mit berücksichtigt, war klar, dass man an diesem Spätwerk nicht mehr vorbeikommt.
Und das lohnt, wenn sich wie im jetzigen Fall ein ebenso begeisterter wie ernsthaft arbeitender junger Regisseur wie Vasily Barkhatov der Geschichte des Fürst Myschkin annimmt und dafür auch den Dirigenten Thomas Sanderling und einige Sänger:innen der Uraufführung hinter sich weiß. Etwas Mut und Sitzfleisch braucht man natürlich als Zuhörer schon, denn Weinbergs Erzähltempo ist trotz eines fantastischen Librettos von Alexander Medwedew von einem Moderato bestimmt, das der Erzählung Dostojewskis wiederum den nötigen (musikalischen) Raum gibt.
In diesem Raum ist Platz für charakterliche Ausformung der Figuren, die sowohl bei Dostojewski als auch bei Weinberg – und gottlob auch bei Barkhatov – im Zentrum des Interesses liegt. Die Gefahr, sich wie in einem schlechten Tatort in einer der Nebenhandlungen zu verlieren, ist bei der Vielzahl der Protagonisten groß. Für Neulinge im Klassiker gibt es im Programmheft daher eine praktische Dramatis-Personae-Karte, doch trotz der oft schnittartigen Technik Weinbergs kann man die Oper gut verfolgen.
Und man braucht auch keine Legende für die schnell festzustellenden Stränge zwischen Macht, Liebe und Geld im Stück, denn das wird Fürst Myschkin nach der Rückkehr nach St. Petersburg schnell klar: „Es geht hier um Millionen und krankhafte Leidenschaft“. Myschkin gerät in diese Konstellationen als eine „von Licht erfüllte“ Gestalt, allerdings ist er weniger als heilsbringender Jesus unterwegs, sondern als intervenierender Wanderer mit Parka und Rucksack. Diese „nicht ins Bild passende“ Rolle läßt Barkhatov ihn bis zum Ende durchhalten, obwohl er da längst zwischen zwei Frauen und deren weiteren Bewunderern und Gönnern geraten ist, also kaum mehr als Beobachter durchgeht. Die Frage, welche Rolle Myschkin tatsächlich einnimmt, der ja sogar am Ende einen Mord hinnimmt, bleibt offen, und möglicherweise friert ja mit seinem eigenen Frösteln diese (falsche) Welt auch wieder ein.
Die feinsinnige Regie, die den Darsteller:innen umfangreiche Möglichkeiten zur Entfaltung bot, war eng verzahnt mit Christian Schmidts Bühnenbild, das mit einem drehbaren Eisenbahnwaggon nicht nur den ersten Romanteil plastisch abbildet, sondern später auch zum Sinnbild für Zeit, Unterwegssein, aber auch Enge und Abhängigkeit wird. Hier trifft Myschkin auch seine Gegenüber, seine Spiegel, Freund und Feind, aber auch den undurchsichtigen Lebedjew (Petr Sokolov), dessen Messerschleiferei mehr und mehr auch bei Weinberg – mit den Gesang ’sägender‘ Piccoloflöte – im letzten Drittel den Tod in die Mitte des Geschehens rückt.
Ein über alle Rollen hinweg herausragendes Sängerensemble trägt diese Oper, die gerade in den Tenor- und Sopranpartien große Stimmen verlangt, zum Erfolg, allen voran Dmitry Golovnin als nuancenreich agierender Myschkin, ihm gegenüber Dmitry Cheblykov als Rogoschin, der am Ende auf dem Waggon bewegend sein Schicksal besingt und doch ein Mörder ist. Die Sopranistin Ekaterina Sannikova (Nastassja) und die Mezzosopranistin Ieva Prudnikovaite (Aglaja) haben keinerlei Mühe, in der durchkomponierten Oper strahlende Höhepunkte anzubringen – ihr Aufeinandertreffen im 4. Akt gerät zum stimmlichen wie szenischen Höhepunkt des Abends.
Vorausgegangen war die von Barkhatov schon treffsicher inszenierte „Männerparty mit schlafendem General“ wie auch das Aufeinandertreffen aller Figuren im Waggon im 3. Akt als bereits unumkehrbarer Status quo der weiter vor Schneelandschaft vorbeiziehenden Geschichte. Die auch von Weinberg musikalisch erfahrbare Dekonstruktion (die ja eigentlich mit dem ersten komplex verschränkten Akkord des Vorspiels schon ahnbar ist) drückt Myschkin auch aus: „Allem bin ich so fremd“
Und alles hatte seinen vorgeschriebenen Weg, und alles kannte diesen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne, er stand allem fremd gegenüber, er war ein Ausgestoßener.
Fjodor Dostojewski „Der Idiot“, Kapitel 35 |
In weiteren Rollen und von Weinberg anspruchsvoll gestalteten Partien glänzen in der Halle E im Museumsquartier international tätige Gäste wie Valery Gilmanov, Ksenia Vyaznikova und Mihails Culpajevs. Mit großen Bravi bedacht wurde das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, das unter Leitung von Thomas Sanderling vor allem in vielen kammermusikalisch feinsinnigen Passagen hervorragend unterwegs war und mit dieser Aufmerksamkeit auch den Sängern einen guten Boden bereitete. Wenn Weinberg sich doch einmal für Steigerungen oder rhythmisch pointierte Passagen entscheidet, darf das Orchester trotzdem noch freigiebiger mit seinem Können sein, damit würde es zu der oft sanften „Bettung“ der Szenerie einen besseren Kontrast schaffen.
Insgesamt war dies ein bewegender Abend mit einer spannenden Opern-Neuentdeckung, die die am Ende begeistert reagierenden Zuhörer ebenso forderte wie alle Kräfte auf der Bühne, vor allem, da man sich auf die großen Bögen Weinbergs einlassen muss, die mich übrigens in vielen Teilen weitaus mehr an Mussorgsky erinnerten als an den oft zitierten Freund und Gönner Schostakowitsch. In der Weinberg-Renaissance der letzten Jahre ist mit dieser gelungenen Produktion ein wichtiger Baustein hinzugefügt, und sich mit Dostojewski UND Weinberg beschäftigen zu dürfen, erscheint ohnehin als doppelter Gewinn.
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