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So viel Theater!

Die Wiener Festwochen sind seit jeher ein Festival für Kultur in verschiedensten Spielformen, die sich oft auch unter dem Begriff der „Darstellenden Kunst“ subsumieren. Im vielfältigen Programm findet man Theater, Tanz, Performance und natürlich genreübergreifende Mischformen. Gerade zeitgenössisches Musiktheater läßt sich oft schwierig in einer Ecke der Kunst verorten, erst recht, wenn Bildende Kunst, Literatur oder auch Film- und Videokunst einbezogen wird.

Wer dieses Jahr vorrangig mit einem Bedürfnis nach musikalischen Höhepunkten die Festwochen besuchte, musste zwar ein wenig im riesigen, schon in der aktuellen Intendanz von Christophe Slagmuylder theaterpriorisierten Programm stöbern, wurde aber nicht nur im Hauptprogramm fündig, sondern auch in den spätabendlichen Nachklängen (aka Parties) etwa im Porgy&Bess, die außergewöhnlichen Vokalperformances oder DJ-Sets boten.

Die von mir besuchten fünf Produktionen bezogen komponierte Musik auf ganz unterschiedliche Weise ein. Je nachdem, welche (tragende) Rolle die Musik im Zusammenspiel von Szene, Akteuren, Raum und Regie erhielt, war auch die Gesamtwirkung davon beeinflusst. Dabei ließ ich mich meistens unvorbereitet auf die Aufführungen ein, was nicht immer für ein volles Verständnis ausreichte, aber zu fast allen Produktionen gab es weiterführende Veranstaltungen oder Einführungen und natürlich beschäftigte man sich mit vielen Themen auch weit über die eigentliche Aufführung hinaus.

Japanisches Theater von Toshiki Okada stand zunächst auf dem Programm in der Halle G im Museumsquartier. Die als Auftragswerk der Festwochen als Work in Progress entstandene „Verwandlung eines Wohnzimmers“ war eine reichlich abstrakte Sache, daran änderte auch die ebenfalls nach und nach hinzukomponierte Musik von Dai Fujikura nichts, die eher wie sanfte farbliche Abstufungen der Szene allmählich dekonstruierten Szene erschien. Über das Verhältnis zwischen Musik und Theater bekam man hier wenig heraus, eher bedauerte man die Musiker des Klangforum Wiens, die sichtlich unterfordert ihre wenigen Parts spielten und ansonsten dem eher bedächtigen Treiben auf der hinter ihnen installierten Wohnbühne zuschauten.

„Okada und ich arbeiteten friedlich und kreativ zusammen“, so Dai Fujikura – genau so war auch der Eindruck des Gesehenen und Gehörten. Damit erreichte dieses Theater aber ein Inseldasein, von dem man sich in der Aufmerksamkeit immer mehr entfernte. Vielleicht war ich aber auch einfach nicht reif für diese Art von Ästhetik und muss dann diese Kritik ebenso porzellanartig verfassen wie Fujikura seine Musik, die manchmal Satie-artig da ist, aber kaum einmal etwas will oder äußert, weil sie ja dann den ebenso vor sich hin philosophierenden Text stören oder betonen würde.

Ganz anders „Sun & Sea“ von Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė. Die von den drei litauischen Künstlern konzipierte, in vielen Städten mit Begeisterung aufgenommene und mit Preisen bedachte Performance-Oper machte nun auch endlich in Wien Station, und zwar nicht am Donaustrande (bereits von Brahms besungen), sondern an einem im Semper-Bau der Kunstakademie aufgeschütteten, der den Zuschauern eine 360-Grad-Perspektive von oben bot und damit auch ein Augentheater der besonderen Art, denn dieses touristische Wimmelbild verändert sich sekündlich, wenn auch im gebotenen Tempo des Strandurlaubs – ein wenig erinnert diese Menscheninstallation an Filme von Roy Andersson, nur dass diese das „Stockholmer Grau“ inszenieren anstelle einer Sandburgenbaustelle.

Dazu werden zwischen Pommes und Kartenspiel einfache Lieder gesungen, über den Sommer, über den Urlaub, über das Leben. Und diese manchmal himmlisch anmutende Musik, die aus eingängigen Strukturen besteht, sitzt, denn die liegenden Strandbesetzer (ein Ensemble aus Profi- und Laiensängern sowie Schauspielern) singen sie mit einer solchen Inbrunst von zivilisatorisch lange erprobter Freizeitlangeweile, dass dieser im Grunde eigentlich sehr intime Abend lange nachklingt.

Weltenwechsel ins Jugendstiltheater am Steinhof, ein paar Tage später. Hier erklingt eine ganz andere Art von (Musik-) Theater. Ein „fertiges“ Stück des Italieners Luigi Dallapiccola, die „Canti di Prigionia“ (Gesänge der Gefangenschaft) wird in eine behutsam choreographierte Szene gesetzt und mit Texten konfrontiert, die sich wie ein Garten um die Komposition und den Komponisten ranken, um Italien, um die Antike, um die Gegenwart. Es wird philosophisch diskutiert, nicht präsentiert. Das ist ein Zugang, der ebenso wie „Sun & Sea“ ganz aus der Poesie ersonnen ist, aber andere Bilder, Tempi und Farben benötigt.

Und tatsächlich hat man es hier mit Pflanzen zu tun, mit offenen Mündern, mit Menschen, die sich zu Formationen wie Kreis oder Block zusammenschließen, um dann wieder auseinanderzustreben. Von Rednerpulten werden Reden gehalten, und die kroatischen Theatermacher Marija Ferlin und Goran Fercec nähern sich existenziellen Grenzsituationen, die die vom Vokalensemble Cantando Admont gemeinsam mit Musikern von PHACE kongenial wiedergegebenen „Canti di Prigionia“ schon klangstark formulieren. Der offene Raum bleibt dabei erhalten, niemals ergießt sich Plattheit über die Zuhörer oder die Gefahr, zu fatalistisch aus nur einer Perspektive zu argumentieren. Auch das ist starkes Theater, das Dallapiccolas famose Musik respektvoll behandelt und auf überraschende Weise interpretiert.

Zwei Tage später bringt das Theater an der Wien in Kooperation mit den Festwochen eine neue Produktion der „Lulu“ von Alban Berg heraus, eine immer wieder in ihrer Fülle neu schockierende wie faszinierende Oper nach Wedekind, die Berg nicht mehr beenden konnte. In den zwei vollendeten Akten schart sich eine illustre Männerwelt um Lulu, geben sich Themen wie Macht, Missbrauch und soziale Milieus die Klinke in die Hand. Das alles schien die kapverdianische Regisseurin Marlene Monteiro Freitas zwar zu interessieren, sie weigerte sich aber, die Geschichte in Bildern und Szenen nachzuerzählen. Stattdessen – und darauf reagierte das Feuilleton einmütig verständnislos – konstruierte sie mit dem Sängerensemble und einem Tanzensemble einen choreographischen Raum, in dem nur Orchester und Sängerensemble die „Lulu“ erzählten, Freitas choreographierter Raum jedoch führt in Abgründe, ins Unbewusste, auch ins Unerklärliche.

Darauf muss man sich erst einmal einlassen, doch hat man einmal das Ohr als vertrauenden Wegweiser, dann entfalten die Bilder ihre eigene Kraft, und sei es, dass sie in ihrer Akkuratesse (was sie wiederum nahe an Berg zurückbringt) und Strenge verstören. Wege werden abgeschritten, Plätze eingenommen und verlassen, so dass es einen inneren Sinn zu ergeben scheint, den wir nicht verstehen müssen, der aber wie eine Folie über der Oper liegt und somit ein ganz anderes Erleben ermöglicht. Das ist risikoreich, weil natürlich in allen Gesten, allen Bewegungen „menschlich Bekanntes“ und auch theaterbekanntes Agieren liegt und Freitas sich zudem traut, Leere oder Fremde in Richtung Berg zu formulieren. Trotzdem gelingt der Balanceakt, weil Freitas im Grunde den einmal betretenen Raum mit seinen begrenzten, eingesetzten Spielmöglichkeiten nicht verlässt.

Was allerdings an diesem Abend gründlich misslingt, ist die musikalische Überzeugung, weil die Entscheidung für die Platzierung des Orchesters hinter und oberhalb der Szene in der Halle E im Museumsquartier Bergs differenzierte Partitur arg nivelliert, da mochte der französische Dirigent Maxime Pascal noch so sehr mit dem ORF Symphonieorchester um Konturen kämpfen. Ein herausragendes Ensemble mit einer stimmlich unglaublich patenten, wandelbaren Lulu (Vera-Lotte Böcker), Bo Skovhus als Dr. Schön, Edgaras Montvidas als Alwa, Kurt Rydl als Schigolch und gar Anne Sofie von Otter als kaum geforderte Gräfin Geschwitz machte diesen wunderlich extremen Abend jedoch auch musikalisch genussvoll.

In klassischen Werken entsteht mit einer mehr oder minder originalen Reprise des Beginns eine harmonische musikalische Form. Bei meinen Besuchen war am Ende zumindest der Raum eine Reprise, nämlich die Halle G im Museumsquartier, in der ich George Lewis „Song of the Shank“ hörte. Doch statt des Klangforum Wien im Japan-Theater saß nun das Ensemble Modern (Ltg. Vimbayi Kaziboni) da, somit ein weiteres Spitzenensemble für neue und neueste Musik. Und der US-Amerikaner Lewis beließ es im Gegensatz zu Fujikura nicht bei tapezierenden Klangflächen, er drückte auf die Taste des musikalischen Dauerfeuers. Und die war vom Thema her durchaus berechtigt und ebenso massiv wie intelligent eingesetzt, denn innerhalb dieser vom Ensemble 150%ig umgesetzten, penetranten musikalischen Protestnote, die „Song of the Shank“ auf die Zuhörer losließ, gab es viele differenziert notierte Klangebenen zu entdecken.

Und die setzte die Geschichte des blinden, 1849 geborenen  Komponisten Thomas Wiggins in Szene (Buch Jeffrey Renard Allen), der als Sklave zeitlebens Rassismus und Demütigungen ausgesetzt war. Wie hätte seine Musik geklungen? Und wie bringt man den Menschen hinter seinem Schicksal wieder in eine würdevolle Betrachtung? Diese Aufgabe löst Lewis nicht mit Verklärung oder Abstraktion, sondern mit einer innerlich brodelnden Wut, die aus der Gegenwart kommt: nichts ist gelöst, nichts ist vorbei, wenige kamen zu ihrem Recht. Das war Protestmusik, die einen schauern läßt, und vor der eine Regie (Stan Douglas) kapitulierte – die wenigen Visuals im Halbdunkel waren schlicht überflüssig. Vermutlich ist die reine Lautstärke, die an diesem Abend auch schmerzvoll erschien, nur die absolut konsequente Führung des kompositorischen Stiftes, eine andere Vertonung scheint fast unmöglich. „Blind Tom“ erhob an diesem Abend seine Stimme (Gwendolyn Brown sang das unnachahmlich) und wurde gehört.

Ein Fazit dieser völlig divers-kontroversen Abende ist schwer herzustellen. Glücklich kann man sein, dass Musiktheater (oder Theatermusik?) sich immer neu ausprobieren muss, sich sogar gegen ignorierende oder abschweifende Regie behaupten kann. Sie wird aber auch sofort vergessen, wenn sie nur Wohnzimmer-„Ausstattung“ ist, und manchmal entwickelt sie magische Kräfte, wenn man sie auf einem Handtuch im Sand im Gottfried-Semper-Bau liegend in den Wiener Himmel singt.

Fotos (c) Nurith Wagner-Strauss (Verwandlung (2), Lulu (2), Song of the Shanks (2)), Monika Rittershaus (Canti di Prigonia (2)), Neon Realism (Sun & Sea (1))

 


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Veröffentlicht in Rezensionen Weblog Wien

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