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Woher wir kommen, wohin wir gehen.

Sächsische Staatskapelle in der Frauenkirche unter Vladimir Jurowski

Am Vorabend des Totensonntags gastierte die Sächsische Staatskapelle mit einem für diesen Tag angemessenen Programm in der Frauenkirche. Dass das Konzert aber gleichzeitig ein Gedenkkonzert für zwei herausragende und mit dem Orchester verbundene Musikerpersönlichkeiten werden sollte, war nicht geplant. Gerade dieser letzte Sonntag des Kirchenjahres ist aber dazu bestimmt, zurückzublicken, sich Menschen zu erinnern, die Bedeutendes hinterlassen haben, damit weiterleben obwohl sie nicht mehr unter uns sind. Schmerzlich war der plötzliche Tod des großen Komponisten Hans Werner Henze am 27. Oktober in Dresden – da war bereits das „Requiem“, das Henze 1992 in Gedenken an Michael Vyner schrieb, für das Frauenkirchen-Konzert projektiert.

Es wurde sein eigenes Requiem, eingebettet in eine Instrumentation der „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach, die der Dirigent Rudolf Barschai kurz vor seinem Tod 2010 vollendete – postum wurde ihm 2010 der Schostakowitsch Preis Gohrisch zuerkannt, das Gastspiel beim Festival in Gohrisch kam nicht mehr zustande. Das Konzert der in großer Kammerorchesterbesetzung musizierenden Staatskapelle war äußerst bewegend und auch in der Musizierhaltung entsprechend von Respekt und Fürsorge für die Partituren geprägt. Dass ausgerechnet solch ein anspruchsvolles Programm als Partnerkonzert mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester, deren Mitglieder in allen Instrumentengruppen am Konzert mitwirkten, durchgeführt wurde, ist schon deshalb lobenswert, weil die jungen Musiker aus diesem gemeinsamen Konzert sicher viel mehr mitnehmen werden als die bloße Repertoire-Erfahrung. Vladimir Jurowski, Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra, war weniger Dirigent, als vielmehr behutsamer Sachwalter der Bach’schen Instrumentation und sorgte für allem für eine zur Transparenz führende dynamische Ausbalancierung der Stücke.

Was Bach uns da in höchster Meisterschaft unvollendet hinterlassen hat, durchlief bereits viele Versuche der Realisierung. Scheitern mochte vor allem der, der sich von Bachs Noten gar zu weit entfernte, zuviel Geschmack und Tand hinzufügte. Diese Gefahr besteht bei Barschais Umsetzung niemals – er wählte ein Streichorchester mit einem auf die Contrapuncti abgestimmten solistisch agierenden Ensemble aus Violine, Viola d’amore, Cello, Gambe und einigen Blasinstrumenten und besann sich auf die originale Stimmführung. Das Orchester bemühte sich um ein klares Klangbild, doch selbst vor dem Altarraum war die faszinierende Polyphonie im steten Widerstreit mit der Akustik des Raumes befindlich, so dass vor allem die abschließende Quadrupelfuge nicht mehr sauber zu verfolgen war, gleichwohl sich alle Musiker um Prägnanz und einen klanglichen Kompromiss zwischen heutigem Kapellklang und historisch informierter Spielweise bemühten.

Hans Werner Henzes „Requiem“ bezog seine enorme expressive Kraft vor allem aus der Nachbarschaft mit der kühlen Klarheit der „Kunst der Fuge“. Hier die Kontemplation des Denkens, dort die herausbrechenden Schreie und Stimmen des Individuums: Håkan Hardenbergers famos interpretiertes Trompetensolo ist nichts anderes als eine Humanitas in Notenschrift. Eines Textes bedarf es in diesem Requiem nicht, auch die Satzüberschriften aus dem Messtext wirken mehr wie Signale oder Haltungen, die sich formulieren. Hardenberger war 1993 schon Solist der Uraufführung des kompletten Requiems in der Kölner Philharmonie – vor drei Wochen wurde das Werk dort ebenfalls als Gedenkkonzert für Henze musiziert. „Rex Tremendae“ und „Lacrimosa“ des Requiems wirkten noch als von Brüchen und Gegensätzen geprägte Auseinandersetzung mit dem Unbill der Welt, das „Sanctus“ schließlich formuliert Tröstung, Transzendenz und mit den Echo-Trompeten von den Emporen fast so etwas wie eine Himmelfahrt.

Dem Nachklang des letzten Satzes lauschte das Publikum lange, bevor starker Applaus aufbrandete – für eine intensive Interpretation dieses im OEuvre des Komponisten sehr aufschlussreichen, wichtigen Werkes, aber vor allem in Gedenken an Henze selbst. Håkan Hardenberger legte seinen Blumenstrauß sogleich auf die Noten des „Requiems“, Bach/Barschai folgte erneut und damit erfuhr dieses Konzert einen als völlig natürlich empfindbaren Bogen hin zu dem unerschöpflichen, wertvollen Reichtum der Musik, die davon künden kann, woher wir kommen und wohin wir gehen.

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Veröffentlicht in Rezensionen

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